Bierpinsel | Berlin
Vergangene Zukunft
Woher hat der Bierpinsel seinen Namen?
Von der berüchtigten Berliner Schnauze.
Was ist seine bauliche Geschichte?
1966 entworfen, 1972 bis 1976 gebaut, 1976 als Turmrestaurant eröffnet; seit 2010 leerstehend und 2017 denkmalgeschützt
Wer hat ihn entworfen?
Das Architektenehepaar Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte, die 1975 das ICC bauten.
„Stadtmarke“ an einer „Superkreuzung“ (Ursulina Schüler-Witte)
Der Berliner Senat hatte die beiden Architekt:innen Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte mit der Planung für den U-Bahnhof Schlossstraße beauftragt. Das Besondere war der Standort: Der Entwurf von 1972 zeigt, wie zwei U-Bahnlinien übereinander kreuzen, ebenerdig die namensgebende Einkaufsmeile Schlossstraße verläuft und die Stadtautobahn als Hochstraße darüber liegt. „Wir wünschten für diese Superkreuzung auch ein besonderes Bauwerk, eine ‚Stadtmarke‘“, erklärte die Architektin 2016.1)
„Im regulären Betrieb werden hoffentlich keine Bierbecher von den 30 Meter hohen Balkonen auf die Fußgänger hinuntergeworfen wie gestern.“
… so eine Steglitzerin zur Eröffnung des Turmrestaurants im Oktober 1976. Seine eingerüstete Gestalt während der Bauzeit und der legendäre Bierausschank zur Eröffnung gaben dem Turmrestaurant seinen Namen: Bierpinsel. Über vier Jahre lang prägte die Baustelle das Straßenbild: Der Bauherr, eine westdeutsche Abschreibungs-KG, hatte sich verkalkuliert und ein Baustopp wurde verhängt. Daraufhin übernahm 1975 eine städtische Genossenschaft die Fertigstellung, um eine imageschädigende Bauruine zu verhindern.2)
Ikone des Irrationalen
Auf dieser Luftbildaufnahme wenige Jahre nach seiner Eröffnung zeigt sich der 46 Meter hohe Bierpinsel über der „Superkreuzung“. Der Bierpinsel ist eine Ikone der 1970er Jahre Architektur des Berliner Westens. Statt rationalistischer Planung der frühen Nachkriegszeit mit genormten Rasterfassaden und vorgefertigten Modulen gibt es knallige Farben und ungewöhnliche Formen aus Kunststoff.3)
Authentizität des Undefinierbaren
Fotos, die sein leuchtendes Rot und die ungewohnte Formensprache hervorstechen ließen, authentisierten den Bierpinsel als Steglitzer Wahrzeichen. Doch erst seit 2017 steht er unter Denkmalschutz. Bis dahin galt er nicht als Vertreter eines erhaltenswerten und authentischen (Berliner) Baustils. Die Architektur war „zwar modern, aber nicht recht einzuordnen“, kein Beton-Brutalismus, keine verspielte Postmoderne, erklärt der Journalist Daniel Bartetzko. „Irgendwie ist diese Art des Bauens namenlos geblieben.“4)
(Welt-)Raum zum Experimentieren
Dieses Foto aus den 2010er Jahren vom Bierpinsel bei Nacht erinnert daran, dass Science-Fiction und Raumfahrt die Inspirationen für die Architekt:innen waren. Die 1970er waren Jahre des Ausprobierens von neuen Stilrichtungen und Bauarten. West-Berlin – die progressive Enklave der bürgerlichen BRD in der DDR – war der Ort, um vom üblichen Kanon „abzuheben“. Die Idee von Schüler-Witte für das Turmrestaurant war ein technoider Baum.
„Tiffanylampen, Western-Saloon-Einrichtung und weitere[r] Nippes“
Die Nutzung holte die Weltraumarchitektur auf den traditionell bürgerlich geprägten Steglitzer Boden der Tatsachen zurück: Die Stammkundschaft vom Café waren „ältere Damen mit Hunden am Kaffeetisch“6) und das Restaurant wurde mit „Tiffanylampen, Western-Saloon-Einrichtung und weiterem Nippes“ ausgestattet. „Wir haben den Bierpinsel seit der Eröffnung nie wieder betreten. Aus Angst, dass jemand glaubt, wir hätten das entworfen“, erzählt die Architektin.7)
Griff nach den Sternen
Ein Flyer aus dem Jahr 2010 wirbt mit der assoziierten Weltraumarchitektur für eine Party im Bierpinsel. Der Flyer ist ein Beispiel dafür, wie die Ideen der 1970er Jahre nach der Jahrtausendwende wiederentdeckt wurden. Es ist eine besondere Art der Nostalgie: „Wie seltsam, dass gerade die Ästhetik des Weltraumzeitalters diesen ganz besonderen Schmelz des Gestrigen, Vergangenen, vielleicht sogar Enttäuschten hat“, resümiert der Autor Till Raether.8)
„[T]ypisch, aber noch nicht ikonografisch ausgelaugt“ (taz)
Das Turmrestaurant ist heute baufällig und nicht mehr frei zugänglich, ein sogenannter „Lost place“. Nostalgische Erinnerungen treffen auf neue Assoziationen: Einerseits kann man beim Betreten der U-Bahnstation dem 1970er-Jahre-Gefühl nachspüren. Andererseits hatte der Bierpinsel in der Serie „Dogs of Berlin“ von 2017 einen Auftritt als Soko-Sitz. Die Serienmacher:innen hatten, laut der TAZ, nach Orten gesucht, „die zwar typisch, aber noch nicht ikonografisch ausgelaugt sind“.9)
„Der Bierpinsel ist auferstanden.“
… so Larissa Laternser, Geschäftsführerin der Schlossturm GmbH (wie der Bierpinsel in Zukunft heißen soll), als sie 2010 ein Streetart-Projekt zur Umgestaltung der Fassade initiierte. „Wir sind stinkesauer“, erwidert Ursulina Schüler-Witte. Sie und Denkmalschützer:innen verlangen die ursprüngliche rote Fassade zurück. Ein Streit über die Bedeutung authentischer Farbgebung.
Autorin: Anna M. Weber
Fußnoten
1): Daniel Bartetzko, in: INTERVIEW: Ursulina Schüler-Witte zum Bierpinsel. „Wir wünschten eine Stadtmarke“, moderneREGIONAL, 26.10.1998, URL: https://www.moderne-regional.de/interview-ursulina-schueler-witte-zum-bierpinsel/.
2): André Görke, in: Der Bierpinsel war der BER der 70er Jahre, Der Tagesspiegel, 10.07.2016, URL: https://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/steglitz-zehlendorf/berlin-steglitz-der-bierpinsel-war-der-ber-der-70er-jahre/13855396.html.
3): Ralf Liptau und Frank Schmitz, in: Pop-tech-ture! Der Berliner Architektin Ursulina Schüler-Witte zum 85. Geburtstag, moderneREGIONAL, 28.07.2014, URL: https://www.moderne-regional.de/pop-tech-ture/.
4): Daniel Bartetzko, in: Wie heißen die eigentlich?, moderneREGIONAL, 4.11.2019, URL: https://www.moderne-regional.de/wie-heissen-die-eigentlich/.
5): Till Raether, in: LEITARTIKEL: Zauberische Ungeduld, moderneREGIONAL, 24.12.1995, URL: https://www.moderne-regional.de/leitartikel-spacedesign/.
6): Cay Dobberke, in: Früher gab’s hier Kaffee, Kuchen – und Pockers Sportsbar. Die kalten Café-Zeiten, Der Tagesspiegel, 4.2.2013, URL: https://www.tagesspiegel.de/berlin/erinnerungen-an-den-bierpinsel-frueher-gabs-hier-kaffee-kuchen-und-pickers-sportsbar/7728664.html.
7): Daniel Bartetzko, in: INTERVIEW: Ursulina Schüler-Witte zum Bierpinsel. „Wir wünschten eine Stadtmarke“, moderneREGIONAL, 26.10.1998, URL: https://www.moderne-regional.de/interview-ursulina-schueler-witte-zum-bierpinsel/.
8): Till Raether, in: LEITARTIKEL: Zauberische Ungeduld, moderneREGIONAL, 24.12.1995, URL: https://www.moderne-regional.de/leitartikel-spacedesign/.
9): Ulrich Gutmair, in: Die Kahlschlagsanierung wird Serienheld. Der Gangster in der Wohnmaschine, taz, 3.1.2019, URL: https://taz.de/Die-Kahlschlagsanierung-wird-Serienheld/!5557473/.