Bierpinsel | Berlin

Titelbild des Steckbriefs für Bierpinsel | Berlin
Wahrzeichen moderner Mobilität – Der Bierpinsel markiert die U-Bahnstation Schlossstraße im Steglitzer Stadtbild.
Foto: Sascha Gloede. URL: https://www.flickr.com/photos/gillyberlin/39949894431/ Lizenz: CC BY 2.0

Vergangene Zukunft

Woher hat der Bierpinsel seinen Namen?

Von der berüchtigten Berliner Schnauze.

Was ist seine bauliche Geschichte?

1966 entworfen, 1972 bis 1976 gebaut, 1976 als Turmrestaurant eröffnet; seit 2010 leerstehend und 2017 denkmalgeschützt

Wer hat ihn entworfen?

Das Architektenehepaar Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte, die 1975 das ICC bauten.

„Der Bierpinsel war der BER der 70er Jahre“, schreibt der Tagespiegel im Rückblick auf dessen Baugeschichte. Die Architekt:innen Ralf Schüler und Ur-sulina Schüler-Witte hatten eine Vision neuartiger Weltraumarchitektur im Kopf, als sie den Turm mit der darunter liegenden U-Bahnstation entwarfen. Sie wollten in die Zukunft des technologischen Zeitalters und die Weiten des Weltalls verweisen. In die Höhe schossen aber vor allem die Baupreise und nur knapp konnte eine Bauruine verhindert werden. Steglitzer:innen feierten 1976 die Eröffnung des Turmrestaurants, trafen sich zum Kaffeekränz-chen im Turmcafé und rauschten Tag für Tag im Auto oder auf dem Weg zur U-Bahn an ihm vorbei. Für eine Zeit lang ein beliebtes Lokal, ist das Gebäu-de seit 2011 Zeit leer – und umstritten.

„Stadtmarke“ an einer „Superkreuzung“ (Ursulina Schüler-Witte)

<p>„Stadtmarke“ an einer „Superkreuzung“ (Ursulina Schüler-Witte)</p>
Plan von 1972.
Repro: Anja Elisabeth Witte/Berlinische Galerie

Der Berliner Senat hatte die beiden Architekt:innen Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte mit der Planung für den U-Bahnhof Schlossstraße beauftragt. Das Besondere war der Standort: Der Entwurf von 1972 zeigt, wie zwei U-Bahnlinien übereinander kreuzen, ebenerdig die namensgebende Einkaufsmeile Schlossstraße verläuft und die Stadtautobahn als Hochstraße darüber liegt. „Wir wünschten für diese Superkreuzung auch ein besonderes Bauwerk, eine ‚Stadtmarke‘“, erklärte die Architektin 2016.1)


„Im regulären Betrieb werden hoffentlich keine Bierbecher von den 30 Meter hohen Balkonen auf die Fußgänger hinuntergeworfen wie gestern.“

<p>„Im regulären Betrieb werden hoffentlich keine Bierbecher von den 30 Meter hohen Balkonen auf die Fußgänger hinuntergeworfen wie gestern.“</p>
Baustelle, 1975.
Repro: Anja Elisabeth Witte/Berlinische Galerie

… so eine Steglitzerin zur Eröffnung des Turmrestaurants im Oktober 1976. Seine eingerüstete Gestalt während der Bauzeit und der legendäre Bierausschank zur Eröffnung gaben dem Turmrestaurant seinen Namen: Bierpinsel. Über vier Jahre lang prägte die Baustelle das Straßenbild: Der Bauherr, eine westdeutsche Abschreibungs-KG, hatte sich verkalkuliert und ein Baustopp wurde verhängt. Daraufhin übernahm 1975 eine städtische Genossenschaft die Fertigstellung, um eine imageschädigende Bauruine zu verhindern.2)


Ikone des Irrationalen

<p>Ikone des Irrationalen</p>
Über der Superkreuzung, 1978.
Foto: IMAGO / Gerhard Leber

Auf dieser Luftbildaufnahme wenige Jahre nach seiner Eröffnung zeigt sich der 46 Meter hohe Bierpinsel über der „Superkreuzung“. Der Bierpinsel ist eine Ikone der 1970er Jahre Architektur des Berliner Westens. Statt rationalistischer Planung der frühen Nachkriegszeit mit genormten Rasterfassaden und vorgefertigten Modulen gibt es knallige Farben und ungewöhnliche Formen aus Kunststoff.3)


Authentizität des Undefinierbaren

<p>Authentizität des Undefinierbaren</p>
Leuchtend rot, 1976.
Foto: IMAGO / serienlicht

Fotos, die sein leuchtendes Rot und die ungewohnte Formensprache hervorstechen ließen, authentisierten den Bierpinsel als Steglitzer Wahrzeichen. Doch erst seit 2017 steht er unter Denkmalschutz. Bis dahin galt er nicht als Vertreter eines erhaltenswerten und authentischen (Berliner) Baustils. Die Architektur war „zwar modern, aber nicht recht einzuordnen“, kein Beton-Brutalismus, keine verspielte Postmoderne, erklärt der Journalist Daniel Bartetzko. „Irgendwie ist diese Art des Bauens namenlos geblieben.“4)


(Welt-)Raum zum Experimentieren

<p>(Welt-)Raum zum Experimentieren</p>
Wie aus einem Science-Fiction-Film, o.J.
Foto: Fotograf unbekannt URL: https://www.atlasobscura.com/places/the-bierpinsel-berlin-germany

Dieses Foto aus den 2010er Jahren vom Bierpinsel bei Nacht erinnert daran, dass Science-Fiction und Raumfahrt die Inspirationen für die Architekt:innen waren. Die 1970er waren Jahre des Ausprobierens von neuen Stilrichtungen und Bauarten. West-Berlin – die progressive Enklave der bürgerlichen BRD in der DDR – war der Ort, um vom üblichen Kanon „abzuheben“. Die Idee von Schüler-Witte für das Turmrestaurant war ein technoider Baum.


„Tiffanylampen, Western-Saloon-Einrichtung und weitere[r] Nippes“

<p>„Tiffanylampen, Western-Saloon-Einrichtung und weitere[r] Nippes“</p>
Ehemaliges Turmrestaurant, 2021.
Foto: Ciarán Fahey/Abandoned Berlin URL: http://www.abandonedberlin.com/bierpinsel/#jp-carousel-9355

Die Nutzung holte die Weltraumarchitektur auf den traditionell bürgerlich geprägten Steglitzer Boden der Tatsachen zurück: Die Stammkundschaft vom Café waren „ältere Damen mit Hunden am Kaffeetisch“6) und das Restaurant wurde mit „Tiffanylampen, Western-Saloon-Einrichtung und weiterem Nippes“ ausgestattet. „Wir haben den Bierpinsel seit der Eröffnung nie wieder betreten. Aus Angst, dass jemand glaubt, wir hätten das entworfen“, erzählt die Architektin.7)


Griff nach den Sternen

<p>Griff nach den Sternen</p>
Party im Bierpinsel, 2010.
Grafik: ohne Angabe URL: https://www.moderne-regional.de/interview-ursulina-schueler-witte-zum-bierpinsel/#jp-carousel-25940

Ein Flyer aus dem Jahr 2010 wirbt mit der assoziierten Weltraumarchitektur für eine Party im Bierpinsel. Der Flyer ist ein Beispiel dafür, wie die Ideen der 1970er Jahre nach der Jahrtausendwende wiederentdeckt wurden. Es ist eine besondere Art der Nostalgie: „Wie seltsam, dass gerade die Ästhetik des Weltraumzeitalters diesen ganz besonderen Schmelz des Gestrigen, Vergangenen, vielleicht sogar Enttäuschten hat“, resümiert der Autor Till Raether.8)


„[T]ypisch, aber noch nicht ikonografisch ausgelaugt“ (taz)

<p>„[T]ypisch, aber noch nicht ikonografisch ausgelaugt“ (taz)</p>
Eingang zur U-Bahn und zum Turmrestaurant, 2012.
Foto: User IngolfBLN URL: https://www.flickr.com/photos/ingolfbln/6660716429/in/album-72157628782092603/ Lizenz: CC BY-SA 2.0

Das Turmrestaurant ist heute baufällig und nicht mehr frei zugänglich, ein sogenannter „Lost place“. Nostalgische Erinnerungen treffen auf neue Assoziationen: Einerseits kann man beim Betreten der U-Bahnstation dem 1970er-Jahre-Gefühl nachspüren. Andererseits hatte der Bierpinsel in der Serie „Dogs of Berlin“ von 2017 einen Auftritt als Soko-Sitz. Die Serienmacher:innen hatten, laut der TAZ, nach Orten gesucht, „die zwar typisch, aber noch nicht ikonografisch ausgelaugt sind“.9)


„Der Bierpinsel ist auferstanden.“

<p>„Der Bierpinsel ist auferstanden.“</p>
Camouflierende Fassade, 2012.
Foto: Oh-Berlin.com URL: https://www.flickr.com/photos/oh-berlin/8263042285/ Lizenz: CC BY-SA 2.0

… so Larissa Laternser, Geschäftsführerin der Schlossturm GmbH (wie der Bierpinsel in Zukunft heißen soll), als sie 2010 ein Streetart-Projekt zur Umgestaltung der Fassade initiierte. „Wir sind stinkesauer“, erwidert Ursulina Schüler-Witte. Sie und Denkmalschützer:innen verlangen die ursprüngliche rote Fassade zurück. Ein Streit über die Bedeutung authentischer Farbgebung.


Autorin: Anna M. Weber

Fußnoten

1): Daniel Bartetzko, in: INTERVIEW: Ursulina Schüler-Witte zum Bierpinsel. „Wir wünschten eine Stadtmarke“, moderneREGIONAL, 26.10.1998, URL: https://www.moderne-regional.de/interview-ursulina-schueler-witte-zum-bierpinsel/.

2): André Görke, in: Der Bierpinsel war der BER der 70er Jahre, Der Tagesspiegel, 10.07.2016, URL: https://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/steglitz-zehlendorf/berlin-steglitz-der-bierpinsel-war-der-ber-der-70er-jahre/13855396.html.

3):  Ralf Liptau und Frank Schmitz, in: Pop-tech-ture! Der Berliner Architektin Ursulina Schüler-Witte zum 85. Geburtstag, moderneREGIONAL, 28.07.2014, URL: https://www.moderne-regional.de/pop-tech-ture/.

4): Daniel Bartetzko, in: Wie heißen die eigentlich?, moderneREGIONAL, 4.11.2019, URL: https://www.moderne-regional.de/wie-heissen-die-eigentlich/.

5): Till Raether, in: LEITARTIKEL: Zauberische Ungeduld, moderneREGIONAL, 24.12.1995, URL: https://www.moderne-regional.de/leitartikel-spacedesign/.

6): Cay Dobberke, in: Früher gab’s hier Kaffee, Kuchen – und Pockers Sportsbar. Die kalten Café-Zeiten, Der Tagesspiegel, 4.2.2013, URL: https://www.tagesspiegel.de/berlin/erinnerungen-an-den-bierpinsel-frueher-gabs-hier-kaffee-kuchen-und-pickers-sportsbar/7728664.html.

7): Daniel Bartetzko, in: INTERVIEW: Ursulina Schüler-Witte zum Bierpinsel. „Wir wünschten eine Stadtmarke“, moderneREGIONAL, 26.10.1998, URL: https://www.moderne-regional.de/interview-ursulina-schueler-witte-zum-bierpinsel/.

8): Till Raether, in: LEITARTIKEL: Zauberische Ungeduld, moderneREGIONAL, 24.12.1995, URL: https://www.moderne-regional.de/leitartikel-spacedesign/.

9): Ulrich Gutmair, in: Die Kahlschlagsanierung wird Serienheld. Der Gangster in der Wohnmaschine, taz, 3.1.2019, URL: https://taz.de/Die-Kahlschlagsanierung-wird-Serienheld/!5557473/.


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