Kirchsteigfeld | Potsdam
Stadt am Stadtrand
Was ist das Kirchsteigfeld?
Ein Nachwende-Wohngebiet, gebaut zwischen 1993 und 1998.
Wo befindet sich das Kirchsteigfeld?
Im äußersten Südosten Potsdams, zwischen dem DDR-Neubaugebiet Drewitz, dem Dorf Alt-Drewitz und der Bundesautobahn 115.
Wer baute hier?
Die Stadt Potsdam in einer „Public Private Partnership“ mit dem West-Berliner Immobilienunternehmen Groth + Graalfs. Das städtebauliche Konzept stammt von Rob Krier und Christoph Kohl. Beteiligt waren 25 internationalen Architektenbüros aus Deutschland, Italien und den USA.
„Neue Vorstadt“
Nach der Wiedervereinigung wurde am Stadtrand Potsdams eine neue Vorstadt mit Tram-Anschluss an die Potsdamer Innenstadt und Autobahnanschluss an die Berliner City-West geplant. So sollte der bestehende Wohnungsmangel behoben werden, der sich durch den für die Region prognostizierten Bevölkerungszuwachs noch zu verstärken drohte. Für das ca. 60 ha umfassende Bauland räumte die Stadt dem privaten Investor Groth + Graalfs ein Vorkaufsrecht ein und vereinbarte die Entwicklung einer „positiv erlebbare[n] und erinnerbare[n] Wohnheimat mit menschlichem Massstab“2), deren maximal 4-geschossige Wohnhöhe zwischen den Bebauungen des Dorfes und der Plattenbausiedlung vermitteln sollte.
„Im Beginn unserer Arbeit an einem Plan für das Kirchsteigfeld steht die ‚Vision’ einer Stadt“3)
Sechs Architekturbüros wurden eingeladen, ein städtebauliches Grundkonzept zu entwerfen und im Rahmen eines Workshopverfahrens zur Diskussion zu stellen. Das Bild zeigt Rob Krier, dessen Entwurf mit Christoph Kohl für die weitere Konkretisierung und Realisierung durch alle Workshop-Beteiligten ausgewählt wurde. Kriers Masterplan sollte im Kirchsteigfeld Urbanität verwirklichen, ein lebendiger Stadtteil, der alle Funktionen des städtischen Lebens – Wohnen, Arbeiten, Erholung, Verkehr – vermische. Kriers Urbanitätsbegriff ist geprägt von Vorstellungen kleiner Kieze, die soziale Interaktion fördern und richtete sich gegen die großmaßstäblichen Wohnsiedlungen in Ost und West.
Historisches Vorbild „Europäische Stadt“
Krier und Kohl bezogen sich in ihren Planungen auf die „klassische europäische Stadt“, eine Reaktion auf die funktionalistische Moderne, die als Sinnbild fehlender Urbanität und Menschfeindlichkeit in der Kritik stand. Der sogenannten europäischen Stadt wurden spezifische, positiv besetzte und vorgeblich bewährte Raumstrukturen zugeschrieben. Der abgebildete Plan des Kirchsteigfeldes verdeutlicht, was die Planer als traditionell verstanden: klar gefasste Blöcke mit Innenhöfen, kleine Straßen, öffentliche Plätzen und grüne Freiräume. Das Zentrum markierte ein Marktplatz mit einem Kirchbau. Der bestehende Wasserlauf „Hirtengraben“ wurde als Grünanlage in die Planungen einbezogen. All diese Elemente sollten Kriers Vorstellungen von Urbanität verwirklichen.
„Haus-für-Haus-Prinzip“
Urbanität bedeutete für die Architekten auch architektonische Vielfalt. Langfristige Stadtentwicklungsprozesse, wie das Bauen einzelner Bauherren „in Baulücken“, wurden planerisch nachgebildet, indem der Entwurf jedes einzelnen Hauses um einen Block an verschiedene Architekten vergeben wurde. 25 Architekten waren am Kirchsteigfeld beteiligt. Zusätzlich soll ein übergreifendes Farbkonzept Übergänge zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Wohnen und Gewerbe sowie Zentrum und Randzonen visuell erfahrbar machen und die Erkennbarkeit einer Stadt garantieren. Solche identifikationsstiftende Elemente sollten den Bewohnern das Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrem Viertel ermöglichen.
Geänderte Planungen
Am 3. Dezember 1993 wurde die offizielle Grundsteinlegung gefeiert. Bereits ein Jahr später konnten im ersten Bauabschnitt Mieter einziehen. Als 1997 der Marktplatz mit Kirche fertig wurde, zählte das Kirchsteigfeld bereits 4 000 Bewohner. Die Wachstumseuphorie der Nachwendezeit war jedoch bereits verpufft. Im südwestlichen Teil des Kirchsteigfeldes wurde die Blockstruktur aufgegeben und ein Reihenhausgebiet errichtet, um das steigende Interesse an Wohneigentum in Stadtrandlange zu bedienen. Mangels Nachfrage wurde der Weiterbau jedoch 1999 gestoppt, gleiches gilt für die geplante Gewerbefläche zur Autobahn, die bis heute brach liegt.
„Das ist ganz viel in der Weihnachtszeit, der Ostermarkt – also dieser Platz wird genutzt von den Familien.“4)
Von Beginn an bemühte sich die zu Groth + Graalfs gehörende Hausverwaltung, die sozialen Prozesse der Aneignung des Kirchsteigfeldes durch seine Bewohner anzustoßen. Haus- und Hoffeste der Bewohner wurden finanziell unterstützt, auf dem Marktplatz wurde ein Wochenmarkt organisiert, ein Weihnachtsbaum errichtet und regelmäßige Veranstaltungen durchgeführt, über die in der Stadtteilzeitung berichtet wurde. Bereits 1995 eröffnete ein Stadtteilladen, der bis heute im Gemeindezentrum der Kirche ansässig ist. Außerhalb dieser Strukturen entwickelte sich im Kirchsteigfeld jedoch kaum Lebendigkeit im öffentlichen Raum.
Potsdam Kirchsteigfeld – Eine Stadt entsteht
… so der Titel der großformatigen, 200-seitigen Dokumentation der Planung und Realisierung des Kirchsteigfeldes, die Krier und Kohl 1997 veröffentlichten. In ausführlichen Schilderungen der Entwicklungsgeschichte und ihrer stadtplanerischen Intentionen, ergänzt durch umfangreiches Bildmaterial, präsentieren sie ihre Idee des Kirchsteigfelds als vollendeten lebendigen Stadtteil. Anekdotisch berichten sie von der Aneignung der planerisch angedachten Urbanität durch die neuen Bewohner. Die Planer vermarkteten das Kirchsteigfeld als authentischen Kiez, der den Bewohner Zugehörigkeit und vertraute zwischenmenschliche Begegnungen ermöglichte.
„Für 95 Prozent der Zeit ist dieser Platz leer“5)
Entgegen der Planungen wird das Kirchsteigfeld heute kaum als intakter „urbaner“ Kiez wahrgenommen. Die Fassaden bröckeln, die Straßen und Hinterhöfe sind leer, es fehlt an Cafés, Kneipen und Restaurants, zwischenzeitlich gab es nicht mal einen Supermarkt. Das Foto zeigt den Marktplatz vor der Kirche – ursprünglich als Begegnungsort des Kiezes gedacht, heute aber hauptsächlich als Parkplatz genutzt. 2018 gründete sich eine Bürgerinitiative, die mehr Gemeinschaftsgefühl und Leben ins Kirchsteigfeld bringen wollte. Ihre Webpräsenz ist mittlerweile nicht mehr online. Von aktuellen Plänen, auf der Brache neben der Autobahn doch noch Gewerbeflächen zu verwirklichen, versprechen sich die Bewohner des Kirchsteigfeldes auch eine Belebung ihres Stadtteils.
Autorin: Sabrina Runge
Fußnoten
1): Landeshauptstadt Potsdam (Hg.), in: Statistischer Informationsdienst 1/2022, Leben in Potsdam. Ergebnisse der Bürgerumfrage, S.73.
2): Zitat ehemaliger Stadtbaudirektor Richard Röhrbein, in: Wohnen nach 1990 in Potsdam: Das Kirchsteigfeld. Ist Wohnzufriedenheit planbar und steuerbar?, Architektursalon Kassel, 2016, URL: http://www.architektursalon-kassel.de/anfang2016.html.
3): Rob Krier und Christoph Krohl, in: Potsdam Kirchsteigfeld: eine Stadt entsteht, 1997, S. 55, Hervorhebung im Original.
4): Interview mit Anwohner, zitiert nach Ludger Basten, in: Postmoderner Urbanismus. Gestaltung in der städtischen Peripherie., 2005, S.
5): Zitat Marcus Müller, Vorsitzender Initiative Kirchsteigfeld zitiert nach Ildiko Röd, in: Viele offene Baustellen, MAZ, 5.7.2018, URL: https://www.maz-online.de/lokales/potsdam/viele-offene-baustellen-L3VZVE5HG34YSFOUDN74D64ULY.html.