Märkisches Viertel | Berlin

Titelbild des Steckbriefs für Märkisches Viertel | Berlin
Das Märkische Viertel in Berlin-Reinickendorf aus der Luft, 2002.
Foto: IMAGO / Günter Schneider

Bilder im Kopf

Wer baute das Märkische Viertel?

Verschiedene, internationale Architekt:innen bauten hier. Das Gesamtkonzept stammt von Hans C. Müller, Georg Heinrichs und Werner Düttmann.

Wann wurde hier gebaut?

1963-1974. Schon 1964 zogen die ersten Mieter:innen ein.

Wer wohnt(e) hier?

Sido, B-Tight, Benjamin Köhler (1. FC Union), Fil (Comiczeichner), sogar Ulrike Meinhof soll hier 1970 eine Wohnung besetzt haben.

Innerhalb von zehn Jahren entstanden in dem Großbauprojekt des Märkischen Viertels Wohnungen für 50.000 Menschen auf sechzehn Stockwerken. Die Architekten versprachen „Blumen und Märchen“ und „angewandte Sonne“ und dass in dem demokratischen Wohnprojekt verschiedene soziale Schichten eine gemeinsame Heimat fänden. Entgegen den großen Versprechungen offenbarten sich jedoch schnell Fehlplanungen in der Infrastruktur, die das Viertel zu einem sozialen Brennpunkt werden ließen – begleitet von einer nahezu voyeuristischen Berichterstattung in zeitgenössischen Reportagen, die das Bild und die Wahrnehmung vom gescheiterten Märkischen Viertel in der Öffentlichkeit fortschrieben. Großflächige Um- und Neuplanungen haben die Mängel seit den 1990er Jahren ausgeglichen. Tatsächlich herrscht heute eine ungewöhnlich hohe Zufriedenheit und starke Identifikation der Bewohner:innen mit „ihrem“ Viertel. Das Bild des sozial abgehängten Märkischen Viertels hat sich dennoch in vielen Köpfen gehalten.

Themen der Authentisierung: Öffentliche AkteureUrbanität

„Nicht auf Kosten der Dauerbewohner und Kleingärtner“

<p>„Nicht auf Kosten der Dauerbewohner und Kleingärtner“</p>
Protestschild auf dem Kleingartengelände am Dannenwalder Weg, 1963.
Foto: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. 0091256 / Fotograf: Johann Willa.

Als Baugrund für das Märkische Viertel wurde eine Laubenkolonie am Stadtrand von Reinickendorf, ein Notwohngebiet der Nachkriegszeit, ausgewählt. Ohne fließendes Wasser und Stromanschluss waren die Wohnverhältnisse dort äußerst prekär. Zudem war der Wohnungsmangel in Berlin groß. Mit dem Bau der Neubausiedlung wollte der Westberliner Senat auf Mangel und Missstände reagieren. Die Bewohner:innen der Lauben wehrten sich jedoch dagegen, da ihnen das mühsam errichtete Dach über dem Kopf wieder abgerissen und ersetzt werden sollte. „Wir fordern soziale Gerechtigkeit“ steht unter anderem auf dem Protestschild.


Die neue Urbanität

<p>Die neue Urbanität</p>
Modell des Märkischen Viertel, 1966.
Foto: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. 0115571 / Fotograf: Hans Seiler.

Der Bau des Märkischen Viertels war zu Beginn ein Prestigeprojekt des Senats. Es sollte zu einem Symbol der neuen Zeit werden. Die Architekten setzten auf das Prinzip von Urbanität durch Verdichtung und Verflechtung: Hell, funktional und futuristisch sollten sich die neuen Häuser von den kriegszerstörten Altbauten abheben. Ganz im Sinne des bundesweiten Bauideals in den 1960er Jahren wurde in der Siedlung der Glaube an technischen Fortschritt visualisiert und manifestiert.1)


In Randlage

<p>In Randlage</p>
Luftaufnahme der Baustelle des MV, im Vordergrund das VEB Bergmann-Borsig in Pankow, dazwischen Grenzanlagen, 1967.
Foto: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. 012543 / Fotograf: Hans Seiler.

Der Baugrund lag am Stadtrand und grenzte an die Berliner Mauer mit ihrem zugehörigen sogenannten Todesstreifen. Auf dem Foto ist im Hintergrund die Baustelle des Märkischen Viertels zu sehen, im Vordergrund ein Betriebsgelände in Pankow, Ostberlin. Dazwischen verläuft der Mauerstreifen. Die Randlage und insbesondere die schlechte Verkehrsanbindung – der Bus bis Bahnhof Zoo brauchte eine knappe Stunde und der U-Bahn-Anschluss wurde erst 1994 hergestellt – gaben dem Viertel das Image „am Rande der Gesellschaft“ zu stehen. Nicht nur städtebaulich schienen die Bewohner:innen aus der Mitte der Gesellschaft an ihren Rand gedrängt worden zu sein.


Zwischen Kränen und Baulärm

<p>Zwischen Kränen und Baulärm</p>
Richtfest für 5.200 Wohnungen am Wilhelmsruher Damm, 1968.
Foto: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. 0130675 / Fotograf: Bert Sass.

Bereits ein Jahr nach Baubeginn, 1964, waren die ersten Wohnungen bezugsfertig – allerdings befanden sie sich inmitten einer riesigen Baustelle. Das Foto zeigt ein Richtfest 1968. Zu diesem Zeitpunkt waren Teile des Viertels bereits seit vier Jahren bewohnt. Es wohnten dort vor allem junge Familien und Personen, die von der Wohnungsnot betroffen in Notunterkünften wie der vormaligen Laubenkolonie gelebt hatten. Durch Sanierungen ganzer Nachbarschaften im Wedding und in Schöneberg wurden zudem viele Arbeiter:innen zwangsweise in das Viertel umgesiedelt. Die Mieten der Neubauwohnungen waren jedoch zum Teil dreimal so hoch wie die für unsanierte Altbauwohnungen, das Durchschnittseinkommen der Bewohnner:innen hingegen niedriger als in der restlichen Stadt.


„Also, man schämt sich, den Besuch in den Hausflur zu lassen. Und […] überhaupt zu sagen: „Ich wohne im Märkischen Viertel.““2)

<p>„Also, man schämt sich, den Besuch in den Hausflur zu lassen. Und […] überhaupt zu sagen: „Ich wohne im Märkischen Viertel.““<sup>2)</sup></p>
Einfamilienhäuser in Reinickendorf und das Märkische Viertel im Bau, 1968.
Foto: Landesarchiv Berlin, F Rep. Nr. 0132286 / Fotograf: Hans Seiler.

Die schlechte Anbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln führte zu langen Arbeits- und Einkaufswegen. Kindergärten, Schulen und Spielplätze waren nicht ausreichend vorhanden. Familien mussten ihre Kinder zuhause betreuen oder ließen sie während der Arbeitszeit allein. Das Viertel, in das auch viele Sozialhilfe empfangende Familien umgesetzt wurden, galt schnell als sozialer Brennpunkt. Der Spiegel veröffentliche 1970 eine Reportage, in der eine Anwohnerin ein Bild der Verwahrlosung zeichnet: „Die Kinder stören mich nicht so, auch wenn sie gegen die Türen treten, im Treppenhaus grölen, in den Keller pinkeln. Mich stören die Erwachsenen, die dazugehören.“ Das Foto zeigt den Kontrast zwischen den Neubauten am Horizont und der scheinbar „heilen Welt“ der Reinickendorfer Einfamilienhäuser.


„Organisiert Euch!“ (Protestparole, Dezember 1970)

<p>„Organisiert Euch!“ (Protestparole, Dezember 1970)</p>
Mieterprotest im Märkischen Viertel, 1972.
Foto: Jürgen Henschel, FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum

Der Frust der Mieter:innen über die schlechte Planung und Infrastruktur im Märkischen Viertel nahm immer weiter zu. In den 1960er Jahren entwickelte sich eine aktive Nachbarschaft, die sich organisierte, Forderungen stellte und zum Teil auch selbst Abhilfe schaffte. So entstanden beispielsweise Eltern-Kind-Gruppen, die die Kinderbetreuung während der Arbeitszeit gewährleisteten. Die Elterninitiativen und die damals entstandenen Spielplätze gibt es zum Teil bis heute. Aus Mietstreiks und Protesten gegen Zwangsräumungen auf Grund von Mietschulden ging eine bis heute existierende Mietrechtsberatung im Märkischen Viertel hervor.


„Siehe, der Mensch!“

<p>„Siehe, der Mensch!“</p>
Ecce Homo – Märkisches Viertel, Druckgrafik von Christoph Niess, 1976.
© VG Bild-Kunst, Bonn 2023.

Trotz der aktiven Nachbarschaft galt das Märkische Viertel in der öffentlichen Auseinandersetzung als Paradebeispiel für soziale Kälte in der Nachkriegsmoderne, den Verlust „proletarischer“ Solidarität, sowie Vereinzelung und Destabilisierung in Großwohnsiedlungen. Der Künstler Christoph Niess übertitelte dieses Bild aus den 1970er Jahren mit „Ecce Homo – Märkisches Viertel“. Ein Mann sitzt in seiner Wohnung, umgeben von Blumenvasen und Naturbildern. Vor seinem Fenster jedoch zeigt sich die Betonwüste einer Hochhaussiedlung. Der Titel, übersetzt „Siehe, der Mensch!“, spielt auf das biblische Motiv des Werkes an. Mit diesen Worten soll der römische Kaiser Pontius Pilatus den mit Dornen gekrönten Jesus von Nazareth vor dessen Kreuzigung dem Volk vorgeführt haben. Statt mit Dornen ist der „Jesus“ im Bild von einem Scheinwerfer gekrönt. Mit diesem traditionsreichen Leidensmotiv kritisiert Niess einerseits die Lebensumstände im Märkischen Viertel zugleich aber auch die öffentliche Zurschaustellung seiner Bewohner:innen in zeitgenössischen Medien.


„Menschen im Experiment“3)

<p>„Menschen im Experiment“<sup>3)</sup></p>
Abenteuerspielplatz am Senftenberger Ring, 1977.
Foto: Jürgen Henschel, FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum

Das Märkische Viertel war nicht nur eine Projektionsfläche medialer Aufmerksamkeit, sondern auch Anschauungsobjekt für sozialwissenschaftliche Studien und Labor für praktische Sozialarbeit. Die Menschen vor Ort waren, wie schon der Spiegel titelte: „Menschen im Experiment“. So betreute beispielsweise die Pädagogische Hochschule einen zweijährigen Workshop, in dem Studierende im Viertel nachbarschaftliche Projekte aufbauen sollten. Es entstanden Dokumentarfilme und ein Jugendzentrum, sowie eine selbst verlegte, marxistisch orientierte Stadtteilzeitung. Das Foto zeigt Kinder des Viertels auf einem in diesem Kontext entstandenen Abenteuerspielplatz. Die als Frei- und Mitgestaltungsräume konzipierten Orte waren damals eine Innovation und existierten bis zum Bau des ersten Platzes im MV nur in Großbritannien.


„Dieser Ort hat ganz viel Seele. Mein Herz hängt am MV“4)

<p>„Dieser Ort hat ganz viel Seele. Mein Herz hängt am MV“<sup>4)</sup></p>
Wappen des Märkischen Viertels, 10. Ortsteil von Reinickendorf.
Bild: Bezirksamt Reinickendorf.

Bis in die 2000er Jahre führte der Wohnungsträger GeSoBa großflächige Sanierungen im Märkischen Viertel durch, um die infrastrukturellen Mängel der Bauzeit auszugleichen. 1999 wurde das MV schließlich zu einem eigenständigen Ortsteil von Berlin-Reinickendorf. Das Bezirksamt begründet diesen Schritt mit der inzwischen „große[n] Identifikation der hier Wohnenden mit ihrem Kiez“.5) Unter Beteiligung der Anwohner:innen entstand sogar ein Stadtwappen, das die Symbiose aus Stadt und Natur als besonderes Merkmal des Viertels betont.


„Mein schöner weißer Plattenbau wird langsam grau / Draufgeschissen! Ich werd‘ auch alt und grau im MV“ (Lyrics „Mein Block“ von Sido)

<p>„Mein schöner weißer Plattenbau wird langsam grau / Draufgeschissen! Ich werd‘ auch alt und grau im MV“ (Lyrics „Mein Block“ von Sido)</p>
Ausschnitt aus dem Musikvideo des Rappers Sido mit dem Titel „Mein Block“.
URL: https://www.youtube.com/watch?v=H4odG4d_88g

Der Song „Mein Block“ des Rappers Sido sorgte dafür, dass „sein MV“ mit Drogen, Sex, Gewalt und Kleinkriminalität assoziiert ist und bleibt. Das Still aus dem Musikvideo zeigt ihn anonymisiert mit martialischer Totenkopfmaske inmitten seiner Gang, im Hintergrund die über den Bildausschnitt hinausragenden grauen Wohnblöcken. Der blaue Filter vermittelt Kälte und Tristesse. Der Songtext und die zum Teil schmuddeligen Bilder des Videos erfüllten die Vorurteile, die das Märkische Viertel von Beginn an begleiten. Der Song spielt mit der Inszenierung des Viertels als Ghetto, in dessen Straßen Sido zum Gangsterrapper wurde. Sido ist übrigens längst weggezogen, doch das Image des verruchten, kriminellen Märkischen Viertels ist geblieben.


„Wir wohnen fast auf dem Land, hier bei uns im Märkischen Viertel…“

<p>„Wir wohnen fast auf dem Land, hier bei uns im Märkischen Viertel…“</p>
Grünfläche mit Wohnkomplex im Märkischen Viertel, 2022.
Foto: Redaktion Märkischesviertel.de URL: https://märkischesviertel.de/sehenswerte-fotos-aus-dem-maerkischen9722c/.

„… Ruhige Orte sind nur ein Katzensprung weit entfernt und das gibt es nicht überall in Berlin.“ So untertitelte die ehrenamtliche Stadtteilwebsite märkischesviertel.de das nebenstehende Foto. Die starke Untersicht lässt das Grün im Bild dominieren, während die Hochhäuser an Größe verlieren. Das MV wird in dieser Darstellung idealisiert. Schon seit den 1990er Jahren sind Strategien für einen Imagewechsel zu beobachten, den vor allem die Bewohner:innen selbst vornehmen. Private Fotos wie dieses zeigen, wie diejenigen die hier wohnen ihr Leben im Viertel bewerten. Ihre Sicht wird als „authentisch“ dargestellt. Die Darstellung des Viertels als sozialer Brennpunkt sei demgegenüber eine Zuschreibung von außen.


Autorin: Josephine Eckert

Fußnoten

1): vgl. Steffen Krämer: „Urbanität durch Dichte“ – Die neue Maxime im deutschen Städte- und Siedlungsbau der 1960er Jahre, in: Buttlar, Adrian von (Hrsg.): denkmal!moderne: Architektur der 60er Jahre, 2007, S. 106-115. URL: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/6641/1/Kraemer_Urbanitaet_durch_Dichte_2007.pdf.

2): Zitat einer Bewohnerin, zitiert nach: Karl Heinz Krüger, in: Menschen im Experiment, Der Spiegel, 1.11.1970, URL: https://www.spiegel.de/kultur/menschen-im-experiment-a-b1e0a21d-0002-0001-0000-000044303116?context=issue.

3): Karl Heinz Krüger: Menschen im Experiment, in: Der Spiegel, 1.11.1970, URL: https://www.spiegel.de/kultur/menschen-im-experiment-a-b1e0a21d-0002-0001-0000-000044303116?context=issue.

4): Zitat von Murat Drayef, Sozialarbeiter, zitiert nach: Lucas Vogelsang, in: Ihr Block, Der Tagesspiegel, 30.10.2014, URL: https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/maerkisches-viertel-sido-hat-die-haeuser-groesser-gemacht-als-sie-schon-waren/9719610-2.html.

5): Zitat des Bezirksamts Renickendorf. URL:  https://www.berlin.de/ba-reinickendorf/ueber-den-bezirk/ortsteile/maerkisches-viertel/artikel.85001.php.


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