Gasometer Schöneberg | Berlin
Zukunftsspeicher in Schöneberg. Der Gasometer liegt zwischen S-Bahngleisen und Wohnbebauung aus dem frühen 20. Jahrhundert.
Was ist der Gasometer?
Ein Tank, um Gas für Schöneberger Haushalte und Straßenbeleuchtung auf Vorrat speichern zu können, mit einer Messuhr („Meter“), die weithin erkennbar den Füllstand anzeigte.
Wo steht der Gasometer?
Im Stadtquartier „Rote Insel“ in Berlin-Schöneberg.
Wann wurde er gebaut?
1910 errichtet, 1913 in Betrieb genommen, 1995 stillgelegt und seit 1994 dem Denkmalschutz unterstellt.
Leuchtturm der Roten Insel
Im 19. Jahrhundert wuchs Schöneberg, bis 1920 eine eigenständige Gemeinde, innerhalb weniger Jahrzehnte vom Dorf zur Stadt heran. Die „Rote Insel“, deren Bebauung sich links im Bild andeutet, war eines der vielen neugebauten Wohnviertel. Das „rote“ Stadt-quartier war ein Ort der linken Arbeiter:innenbewegung und als „Insel“ umgrenzt von Bahngleisen, die im Vordergrund die Aufnahme kreuzen. Um das Viertel mit Gas zu versorgen baute 1871 ein Londoner Unternehmen das Gaswerk auf; 1911 kam der große Gasbehälter hinzu.1)
Neue Maßstäbe
1918 zeichnete der Künstler Leopold Thieme den Gasometer. Während der Gastank den Bildrahmen zu sprengen droht, wirken die Passant:innen davor klein, fast schon eingeschüchtert. Eine mögliche Interpretation ist: Thieme erschafft den Eindruck, dass die Anlage alle Maßstäbe sprengt und eher ein bedrohlicher als hoffnungsvoller Hinweis in die Zukunft ist. Ob die Schöneberger:innen ebenso empfunden haben, ist heute schwer nachzuvollziehen. Aber dieses Bild zeigt zumindest eine der vielen damals möglichen Wahrnehmungen.
Authentische Kunst?
Ernst Ludwig Kirchner nutzte dynamische und farbenreiche Stilmittel, um sein Empfinden von der Industrieanlage und der umgebenden Landschaft im Zeichen des hoffnungsvollen Fortschritts auszudrücken. Dabei muss die Darstellung nicht „realistisch“ sein, um „echt und authentisch“ zu wirken. Kunstwerke sind Zeitdokumente der Authentisierung: Wie wurde der Gasometer wahrgenommen und welche Bedeutung hatte er? Zugleich werden Kunstwerke selbst authentisiert: Welche Bilder und Künstler werden heute ausgewählt, um zu zeigen, was „typisch“ und „authentisch“ für die Zeit war?
Am Horizont
Ein Blick aus dem Hilton Hotel in Berlin Tiergarten 1970: In der linken Bildhälfte steht der Gasometer am Horizont. Trotz der Hochhäuser an der Kurfürstenstraße, die diese Aufnahme im Vordergrund dominieren, ist ein Skelett zu erkennen. Es ist aus der Ferne und allen Himmelsrichtungen zu sehen. Deshalb gilt der Gasometer als sogenannte Landmarke für Schöneberg, als wichtige Kennzeichnung eines Ortes und markanter Orientierungspunkt in Berlin.
„Die Skyline meiner Kindheit“
… nennt die 27-Jährige Karla den Gasometer.2) Er ist im Kiez und darüber hinaus unübersehbar. Als Kulisse des alltäglichen Lebens ist er seit Generationen ein Identifikationsmerkmal für viele Anwohner:innen in Schöneberg. Auch Günter Grass, der in den 1960er Jahren in Friedenau wohnte, beschrieb das dynamische Bauwerk als unentbehrlich: „In unserer Vorstadt sitzt eine Kröte auf dem Gasometer. Sie atmet ein und aus, damit wir kochen können.“3)
Stadtbild unter Denkmalschutz
Seit 1994 steht der Gasometer unter Denkmalschutz. Begründet wurde dieser Schritt damit, dass er eine „stadtbildprägende Wirkung“4) habe: Durch seine Höhe und markante Konstruktion, durch seine identitätsstiftende Bedeutung für den ehemaligen Arbeiterbezirk Rote Insel, sowie durch die künstlerischen Interpretationen, die heute deutschlandweit in Museen hängen. Auf diese Argumente berief sich auch die Bürgerinitiative „Gasometer retten“, die seit 2020 versucht einen Neubau in dem Industriedenkmal zu stoppen.5)
Energiewende im Gastank
Um das Stahlskelett herum entwickelte Investor Reinhard Müller das „Europäische Energieforum“, das ein Symbol für die Energiewende in Deutschland sein soll. Der EUREF-Campus beherbergt Unternehmen und Wissenschaftler, die sich mit den Themen Energie, Mobilität und Nachhaltigkeit beschäftigen. Das finale Bauprojekt ist der Ausbau des Gasometers bis 2024 zu einem energieeffizienten Büroturm und Veranstaltungsort mit eigenem Biomethan-Kraftwerk inklusive öffentlich zugänglicher Sky-Lounge. Mieter wird der Digitalisierungsbereich der Deutschen Bahn. Obwohl bei Anwohner:innen und Denkmalschützer:innen umstritten, wurde das Projekt vom Bezirk genehmigt. Einzige Auflage: Ein Meter „Respektabstand“ zu dem im Zuge des Neubaus zu restaurierenden Stahlgerüst.6)
Autorin: Anna M. Weber, Josephine Eckert, Sabrina Runge
Fußnoten
1): Denkmaldatenbank, Landesdenkmalamt Berlin (Hg.) o.J. Gaswerk Schöneberg. URL: https://denkmaldatenbank.berlin.de/daobj.php?obj_dok_nr=09066707 (zuletzt abgerufen am 17.02.2023).
2): Herber, Benedikt und Kittel, Sören 2021. Gasometer: Der Untergang der Krone von Schöneberg. URL: https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/gasometer-der-untergang-der-krone-von-schoeneberg-li.151615?pid=true (zuletzt abgerufen am 17.02.2023).
3): Zitiert nach: https://www.bz-berlin.de/berlin/tempelhof-schoeneberg/manometer-hier-waechst-etwas-im-schoeneberger-gasometer (zuletzt abgerufen am 17.02.2023).
4): Bürgerinitiative „Gasometer retten!“ und Schumann, Ulf (Hg.) 2021. Landesdenkmalamt sagt „Nein!“. URL: http://www.gasometer-retten.de/2021/02/27/landesdenkmalamt-sagt-nein/#comment-32 (zuletzt abgerufen am 17.02.2023).
5): http://www.gasometer-retten.de/wp-content/uploads/2021/06/Dossier.pdf
6): Quellen: https://www.bz-berlin.de/berlin/tempelhof-schoeneberg/manometer-hier-waechst-etwas-im-schoeneberger-gasometer & https://euref.de/entry/gasometerschoeneberg/ (zuletzt abgerufen am 17.02.2023).