Nikolaiviertel | Berlin
Mittelalter aus der DDR? Das als „Berliner Altstadt“ geltende Nikolaiviertel ist zu großen Teilen erst in der DDR errichtet worden.
Was ist das?
Das Nikolaiviertel in Berlin-Mitte.
Wann wurde es errichtet?
Von 1980 bis 1987.
Wer nutzte es?
Das Viertel ist ein beliebtes touristisches Ziel und hat vielfältige gastronomische und kulturelle Einrichtungen. Das Viertel dient als Hintergrundkulisse für zahlreiche öffentliche Veranstaltungen.
Wiederaufbau
In der Kaiserzeit wurde das Viertel noch als Sanierungsgebiet betrachtet. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg blieben lediglich die Ruine der Nikolaikirche und vereinzelte Wohngebäude zurück. Nachdem das vom Kriegsschutt befreite Nikolaiviertel Jahrzehnte lang brachgelegen hatte, begann der Wiederaufbau des Quartiers ab 1980.
Die 750 Jahr-Feier
In der DDR wurde in den 1960er und 1970er Jahren das Ideal eines neuen Stadtbildes, nach den Prinzipien der sozialistischen Moderne, verfolgt. Die 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin löste eine Reihe von Rekonstruktions- und Sanierungsprojekten in Ost- und Westberlin aus. Auch für das Nikolaiviertel lagen zunächst Pläne vor, die eine Hochhausbebauung vorsahen. Nach einer Neubewertung des Bauerbes wurde schließlich die Idee eines Neubaus nach Vorlage des alten Stadtgrundrisses umgesetzt.
Die Altstadt der 1980er Jahre
Das neue Nikolaiviertel ist eine Mischung aus einigen sanierten Altbauten der Vorkriegszeit und Neubauten, die stilistisch an die historische Bebauung angepasst wurden. Die Formsprache und Dimensionen der Neubauten, sowie die engen Gassen, vermitteln das Gefühl einer Altstadtbebauung. Unterschiede zu den historischen Vorkriegsbauten sind bei den rekonstruierten Neubauten der 1980er Jahre rasch zu erkennen: an den schlichten Fassaden, die ohne Ornamente gestaltet sind, zeichnen sich die Betonplatten ab. Typisch sind auch die niedrigen Geschosshöhen und die einheitlichen Sockelzonen der Neubauten, die sich über zwei Geschosse erstrecken.
Auferstandene Ikone
Die Nikolaikirche gilt als ältestes erhaltenes Gebäude Berlins. Das im 12. Jahrhundert entstandene Bauwerk wurde im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zerstört. Die Kirche wurde zwischen 1980 bis 1983 originalgetreu wiederaufgebaut. Sie ist das wohl auffälligste Bauwerk des Nikolaiviertels und verlieh diesem auch seinen Namen. Das sanierte Quartier wurde offiziell zunächst „Wohngebiet am Marx-Engels-Forum“ genannt.
Ein Gebäude geht auf Reisen
Das Ephraim-Palais aus dem 18. Jahrhundert wurde im Rahmen des Wiederaufbauprojektes rekonstruiert. 1936 war das Palais für den Bau der neuen Mühlendammbrücke abgetragen worden. Das heutige Ephraim-Palais besteht teilweise noch aus den historisch originalen Fassadenelementen, die rund 50 Jahre in der späteren Bundesrepublik zwischengelagert wurden. Für den Wiederaufbau des Palais kam es zu einem seltenen Kulturgutaustausch zwischen Ost und West. Der Rest des Palais ist eine moderne Rekonstruktion der DDR aus den 1980er Jahren, das rund 16 Meter vom ursprünglichen Standort wieder errichtet wurde. Der Rokokobau wird im Volksmund als „die schönste Ecke von Berlin“ bezeichnet
Das „Harrods von Berlin“.
Nicht von den Rekonstruktionsarbeiten im Nikolaiviertel der 1980er Jahre mit eingeschlossen blieb das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Kaufhaus Israel. Der Gründer und Namensgeber des dort ansässigen Geschäfts war Nathan Israel. Unter der Leitung seines Enkels Berthold Israel entstand 1902 an der Ecke der Spandauer Straße und der heutigen Rathausstraße ein mehrgeschossiger Kaufhausbau. Dieser wuchs durch einige Erweiterungsbauten in den Folgejahren zu den Dimensionen eines Wohnblocks an. Das Unternehmen erreichte 1928 einen Jahresumsatz von 34,5 Millionen Reichsmark und war eines der größten Kaufhäuser Berlins. 1939 wurde das Unternehmen im Zuge der von der NS-Diktatur angeordneten „Arisierung“ 1939 zwangsweise veräußert, was das Ende einer Kette von antisemitisch motivierten Eingriffen auf das Geschäft markierte. Heute erinnern am ehemaligen Standort des Gebäudes zwei Stolpersteine an das Kaufhaus Israel und an Wilfrid Israel.
Von Cölln nach Berlin
Das Gasthaus „Zum Nusbaum“ stand ursprünglich im Fischerkiez im historischen Alt-Cölln und daher „links vom Molkenmarcht“ wie es in einem von Hans Brennert geschriebenen Lied heißt. Der Name des Gebäudes stammt von einem Nussbaum, der sich unmittelbar vor der Lokalität befand. Als eines der letzten spätmittelalterlichen Giebelhäusern war das Gebäude lange das ältestes Lokal Berlins, bis es im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Während der Neuplanung des Nikolaiviertels wurde die Gaststätte vom verantwortlichen Architekten Günther Stahn an neuer Stelle im Nikolaiviertel rekonstruiert und erneut mit einem Nussbaum versehen. Seither befindet sich die Lokalität im historischen Alt-Berlin in der eigens konzipierten Straße „Am Nussbaum“ und lockt Gäste mit traditioneller Berliner Küche.
Zeitmaschine
Die historische Rekonstruktion der Berliner Altstadt scheint beliebt zu sein und ist kennzeichnend für die Inwertsetzung historischer Bebauungen in der DDR ab den 1980er Jahren. Der Altstadtflair und die hohe Dichte von gastronomischen Einrichtungen machen das Nikolaiviertel bis heute zu einer beliebten touristischen Sehenswürdigkeit und zu einem Veranstaltungsort von historischen Festspielen. Bei dieser gesellschaftlichen Inwertsetzung des Nikolaiviertels als Ort der Auslebung nostalgischer Sehnsucht, treffen jährlich unterschiedlichste Zeitschichten aufeinander.
Autor: Tobias Rinke